Vor gut einem halben Jahrhundert erschien die 12. Auflage des
Angiospermenbandes von Adolf Buglers „Syllabus der Pflanzenfamilien“,
am Botanischen Garten und Botanischen Museum Berlin-Dahlem
herausgegeben von Professor Hans Melchior (Melchior 1964). Seit 2009
unternimmt es in verdienstvoller Weise Professor Wolfgang Frey,
ehemals Direktor des Instituts für Systematische Botanik und
Pflanzengeographie der Freien Universität Berlin, eine zeitgenössische
13. Auflage herausgeberisch auf den Weg zu bringen, die fünfteilig
konzipiert ist und deren Teil 4 nun vorliegt. Autoren dieses Bandes
neben dem Herausgeber sind Professor Eberhard Fischer und Dr. Inge
Theisen vom Institut für Integrierte Naturwissenschaften der
Universität Koblenz-Landau. Behandelt werden die Gymnospermen
(Pinopsida) und die erste Partie der Angiospermen
(Magnoliopsida) mit den Ordnungen Amborellales, Nymphaeales,
Austrobaileyales, Chloranthales, Canellalaes, Piperales, Laurales,
Magnoliales, Acorales, Alismatales, Petrosaviales, Dioscoreales,
Pandanales, Liliales und dem ersten Teil der Asparagales
(Agavaceae, Alliaceae, Amaryllidaceae, Aphyllanthaceae, Asparagaceae,
Asphodelaceae, Asteliaceae, Blandfordiaceae, Boryaceae, Doryanthaceae,
Hemerocallidaceae, Hesperocallidaceae, Hyacinthaceae, Hypoxidaceae,
Iridaceae, Ixoliriaceae, Lanariaceae, Laxmanniaceae, Orchidaceae,
Ruscaceae, Tecophilaeaceae, Xanthorrhoeaceae und
Xeronemataceae). Die übrigen monocotylen Ordnungen
(Arecales, Commelinales, Poales, Zingiberales und
Dasypogonales) werden zusammen mit den Ceratophyllanae
und den Rosidae (Eudikotyledonen) im noch zu erwartenden Teil 5
des Gesamtwerkes abgehandelt.
Die Aufzählung des taxonomischen Inhalts des Teils 4 möge der
interessierten Leserschaft dieses neuen Handbuchs zur ersten
Orientierung dienen und macht zugleich deutlich, dass vom Syllabus der
12. Auflage, um es salopp zu formulieren, nicht viel übriggeblieben
ist — zu fulminant ist der Fortschritt der taxonomischen Forschung der
letzten Jahrzehnte, namentlich seit molekularbiologische Methoden die
klassische Anatomie, Embryologie und Morphologie als Arbeitsmittel
ergänzen. Zahlreiche molekularbiologische Analysen führten zu neuen
Einsichten und einem klareren Verständnis der Evolution und Systematik
der Pflanzen, zugleich jedoch stagniert die klassische,
morphologisch-basierte Taxonomie und sieht sich sogar einem
bedenklichen Nachwuchsmangel an Experten gegenüber. Das Ethos der
Verfasser ist, alle genannten methodischen Ansätze zu integrieren und
an die kommenden Wissenschaftlergenerationen weiterzugeben, um damit
breit gebildete junge Fachleute auszubilden, die unser Wissen über die
Biodiversität der Erde in vollem Umfang aufrecht zu erhalten
verstehen. Es ist ein Werk entstanden, das in unverstellter Würdigung
der Englerschen Tradition durch Einbeziehung neuester
molekular-phylogenetischer und phylogenomischer Erkenntnisse einen
aktuellen Überblick über die Familien und Gattungen der Phanerogamen
ermöglicht und zweifellos eine zentrale Referenzbasis für die
kommenden Jahrzehnte darstellt.
Diese Referenzbasis ist aber weit davon entfernt, als „heilige
Schrift“ missverstanden zu werden. Abweichende taxonomische
Auffassungen werden, wo nötig, genannt und diskutiert und auf diesem
Hintergrund das hier vertreten Konzept konsequent abgeleitet. Das gilt
sowohl für Familien- und Gattungsabgrenzungen als auch für die
Definition höherer Rangstufen. Wertvoll ist, dass als Synonyme
inkludierte Taxa unter den akzeptierten Taxa im Text genannt werden,
so dass der Leser dieselben nicht einfach orientierungslos
vermisst. Zu Diskrepanzen auf dem zeitgenössischen Markt der
taxonomischen Meinungen (ABG II, AGB III, Kubitzki etc.) wird — dem
limitierten Druckraum entsprechend stichwortartig — Stellung bezogen
und die eigene Auffassung der Autoren als durchaus relativierbar
(ergebnisoffen) gekennzeichnet. Das macht das Werk zu einem
unverzichtbaren Arbeitsmittel für die taxonomische “Wahrheitssuche”.
Leser aus Europa und dem Mittelmeerraum wird interessieren, das
Acis als Segregat von Leucojum (Amaryllidaceae)
anerkannt und Comperia anders als Barlia nicht mit
Himantoglossum (Orchidaceae) vereinigt wird, wobei Comperia
taurica K. Koch 1849 die Priorität vor C. comperiana
(Steven) Asch. & Graebn. 1907 gebührt. Leopoldia und
Pseudomuscari werden aus Muscari herausgenommen und
Prospero aus Scilla (Hyacinthaceae). Nigritella
geht in Gymnadenia (Orchidaceae) auf, Gynandriris in
Moraea (Iridaceae), Hermodactylus und Juno in Iris
(Iridaceae), Tamus in Dioscorea (Dioscoreaceae) und
Androcymbium, Bulbocodium und Merendera in Colchicum
(Colchicaceae). Auf dem Feld der von ihm so bezeichneten
„Monstergattungen“ Drimia, Ornithogalum und Scilla, die
monophyletisch neu zu ordnen der jüngst verstorbene Franz Speta (Linz)
seit zwanzig Jahren bemüht war, haben einige der von ihm aufgestellten
Segregate (Fessia, Menvilla, Pseudoprospero, Zagrosia)
Anerkennung gefunden, andere hingegen nicht (Avonsera, Autonoe,
Charybdis, Chonardia, Ebertia, Igidia, Othocallis, Pfosseria,
Rhadamantopsis, Schnarfia, Zahariadia). Dass Anthericum und
Paradiseo nun zu den Agavaceae zählen, mag für
mitteleuropäische Floristen noch gewöhnungsbedürftig sein. Auf weitere
derartige Einzelheiten einzugehen ist hier nicht der Raum.
Ausdrücklich erwähnt werden soll jedoch, dass bei den Gymnospermen
erstmals die gesamte bekannte fossile Diversität, vor allem die in
China in den jüngsten zehn Jahren neu entdeckte, ein Teil der
Gesamtbetrachtung ist. Ähnlich innovativ ist die vorgelegte weltweite
und in ihrer Vollständigkeit zur Zeit konkurrenzlose Bearbeitung der
Orchidaceae (S. 1: „a fully revised and modern treatise“) mit geradezu
atemberaubenden, zum Teil erst vor wenigen Jahren bekannt gewordenen
Details zur Blütenmorphologie, Bestäubungsbiologie, Autogamie,
Apomixis, Verbreitungsbiologie, Mycotrophie und Phylogenie — eine
Meisterleistung wissenschaftich hochwertiger Kompilation aus einer
schier unübersehbaren Menge an Primärliteratur.
Unter den Einkeimblättrigen sind mit den Alliaceae, Iridaceae
und Orchidaceae drei Familien dargestellt, die mit ihrem
Reichtum an Zier- und Nutzpflanzen von enormer wirtschaftlicher
Bedeutung sind. Crocus sativus (Safran) und Vanilla
planifolia (Vanille) sind aktuell die teuersten Gewürze der Welt,
und allein in Deutschland (siehe S. 425) wurden im Jahre 2009 45,6
Millionen getopfte Orchideen im Wert von 400 Millionen Euro als
Zimmerpflanzen verkauft (hauptsächlich Hybriden der Gattungen
Phalaenopsis, Cymbidium, Dendrobium, Miltonia, Oncidium und
Paphiopedilum).
Der Band ist mit 104 im Text verstreuten Farbtafeln illustriert, die
eine Menge staunenswerter Aufnahmen seltenster und ökologisch
hochspezialisierter Regenwaldarten zeigt (z.B. Thismiaceae,
S. 250; Triuridaceae und Stemonaceae, S. 259);
Corsiaceae, S. 270; Taeniophyllum coxii, S. 403). Ein
paar eher redundante Bildplätze, die sinnvoller hätten genutzt werden
können (etwa bei Narthecium, S. 246), tun dieser optischen
Informationsfülle keinen Abbruch.
Die nomenklatorischen Autoren sind konsequent nach Brummitt & Powell
(in der elektronischen Version von 2011) standardisiert, eine
keineswegs überflüssige Mühe, denn schon eine unterlassene Abkürzung,
eine überflüssige oder unzutreffende Initiale oder ein vergessener
Punkt erzeugen „falsche“ bzw. von Suchmaschinen nicht erkannte
Autorbezeichnungen. Ganz wenige solcher Fehler sind beim
Korrekturlesen übersehen worden, die hier in der standardisierten Form
genannt seien: Bercht. & J. Presl (Laurales, S. 159),
P. C. Boyce (Orontioideae, S. 207), G. S. Bunting
(Jasarum, S. 217), K. Koch & Sello (Philodendron
scandens, S. 219), E. M. Friis, K. R. Pedersen & Peter R. Crane
(Mayoa portugallica, S. 223; Peter R. Crane nicht zu
verwechseln mit P. E. Crane = Patricia E. Crane), K. D. Koenig
(Thalassia, S. 231), J. R. Forst. & G. Forst. (Tacca,
S. 248), Hook. (Sandersonia aurantiaca, S. 267), Webb &
Berthel. (Autonoe, S. 319), Carnevali (Guanchezia,
S. 380) und Pfitzer (Dolabrifolia, Macroplectrum, S. 409). Zwei
winzige Druckfehler seien hier berichtigt: Sumatra (unter
Pyramidanthe prismatica, S. 180) sowie Tecophilaeaceae
(S. 285).
Dass die Verfasser sich erfolgreich bemüht haben, neueste Ergebnisse
zu Biologie, Ökologie (incl. Palaeoökologie) und Pflanzengeographie
der behandelten Taxa zu sammeln und weiterzuvermitteln, verleiht dem
Werk einen hohen erzieherischen Wert, wenn es darum geht, dem
Niedergang der „klassischen“ Disziplinen in den Hochschul-Curricula
entgegenzuwirken. Die Summe der Einzelergebnisse jüngster Forschung
auf diesen Gebieten liest sich wie ein spannender Krimiminalroman,
etwa zur Thermogenese bei Amorphophallus (S. 224), zur
Bestäubungsbiologie der Hydrocharitaceae (S. 232), zur
Autogamie bei Tacca trotz des extravaganten floralen
Schauapparates, zum Nachweis hochspezialisierter chlorophyllfreier,
vermutlich holomycotropher Monokotylen bereits im Turon (Oberkreide)
(S. 260) oder zu der Tatsache, dass, was erst 2012 bekannt wurde,
Epipogium aphyllum (Orchidaceae) nicht, wie man bislang annahm,
autogam ist, sondern von Hummeln (Bombus spp.) bestäubt wird
(S. 417). Bei allen akzeptierten Gattungen ist in Klammem die bekannte
oder geschätzte Artenzahl angegeben, ebenfalls eine Quelle spannender
Informationen, allein bei den Orchideen von artenreichen Gattungen wie
Bulbophyllum (1852 spp.) und Epidendrum (c. 1420 spp.) — in
der 12. Auflage des Syllabus waren es noch geschätzte 1500 bzw. 800
Arten (Melchior 1964: 620, 621) — bis zu monotypischen Punktendemiten
wie der erst im Jahr 2008 beschriebenen Santotomasia (1) vom
Berg Santo Tomas auf der philippinischen Insel Luzon (S. 405).
Ein fast 30-seitiges Literaturverzeichnis („References and further
reading“, S. 438–465) erschließt die Primärquellen. Durch zwei
Validierungen neuer Namen (Isotrema arborea (Linden) Eb. Fisch,
comb, nov., S. 154) und Nolinoideae Eb. Fisch. & G. Mwachala
subfam. nov., S. 431) wird Teil 4 des neuen Syllabus selber zur
Primärliteratur.
Thomas Raus
Willdenowia 46(3):479-481. 2016