Als ich in den 1990er-Jahren begann, mich mit Grundwassermodellierung
zu befassen, behandelten die zur Verfügung stehenden Fachbücher vor
allem die mathematischen Grundlagen der Modelle. Antworten auf die
Frage, wie man die komplexen hydrogeologischen Bedingungen eines
realen Standorts in angemessener Weise konzeptionell vereinfacht und
in ein numerisches Modell umsetzt, fand man dort kaum. Eine
erfreuliche Ausnahme bildete das 1992 erschienene Buch „Applied
Groundwater Modeling“ von Mary P. Anderson und William
W. Woessner. Darin wurden zwar auch die mathematisch-technischen
Grundlagen knapp besprochen, der Hauptteil des Buchs beschrieb aber
die für die Anwendung von Grundwassermodellen erforderlichen
Arbeitsschritte von der Formulierung der Fragestellung über die
konzeptionelle Modellbildung, den Aufbau des numerischen Modells und
dessen Kalibrierung, bis zu Prognoserechnungen und der Präsentation
der Ergebnisse. Offenbar ähnlich motiviert gründete sich innerhalb
der Fachsektion Hydrogeologie der Deutschen Geologischen Gesellschaft
(FH-DGG) im Jahr 1995 der Arbeitskreis „Hydrogeologische Modelle“.
Dessen Ergebnisse mündeten zunächst in einem im Jahr 1999 publizierten
gleichnamigen Leitfaden, der drei Jahre später durch einen Band mit
Fallbeispielen ergänzt wurde.
Mittlerweile hat sich die Welt verändert – jedes Smartphone schlägt
die Rechner der 1990er-Jahre in puncto Leistungsfähigkeit bei weitem –
und so ist es nicht überraschend, dass auch die
Grundwassermodellierung sich weiterentwickelt hat. Den enorm
gewachsenen technischen Möglichkeiten, sowohl die Hardware als auch
die Software betreffend, die eine zunehmende Anwendung von
Grundwassermodellen in der hydrogeologischen Praxis begünstigen,
stehen ebensolche Fortschritte in den wissenschaftlichen Kenntnissen
und Methoden gegenüber. Anlass also, neuere Literatur zum Thema unter
die Lupe zu nehmen, die 2015 erschienene zweite Auflage von „Applied
Groundwater Modeling“ und den 2010 veröffentlichten dritten (und
letzten) Leitfaden des Arbeitskreises „Hydrogeologische Modelle“.
„Mastery of groundwater modeling requires both art and science”,
schreiben Mary Anderson, William Woessner und der als dritter Autor
neu hinzugekommene Randall Hunt im Vorwort der Neuauflage von „Applied
Groundwater Modeling“ (AGM). Die „Wissenschaft“ der
Grundwassermodellierung umfasst die theoretischen Grundlagen der
Modellierung, also insbesondere die mathematische Beschreibung der
Prozesse und die Methoden zur Lösung der Modellgleichungen, darüber
hinaus 2016 aber auch Verfahren zur Modellkalibrierung und zur
Quantifizierung von Unsicherheiten. Die „Kunst“, die Komplexität der
realen hydrogeologischen Gegebenheiten im konzeptionellen Modell und
dessen Umsetzung im numerischen Modell angemessen zu vereinfachen,
erfordert ein gewisses Maß an Intuition, das aus Erfahrung in der
Anwendung von Grundwassermodellen resultiert. AGM beschreibt die
Vorgehensweise bei der Grundwassermodellierung entlang der einzelnen
Arbeitsschritte und bietet damit eine wertvolle Hilfestellung bei der
Entwicklung von „Modellierungsintuition“. Neben der Veranschaulichung
durch Anwendungsbeispiele dienen diesem Zweck vor allem die jeweils am
Kapitelende für jeden Arbeitsschritt aufgelisteten typischen Fehler.
Der Leitfaden „Hydrogeologische Modelle – Bedeutung des
hydrogeologischen a priori-Wissens“ legt den Schwerpunkt auf die Rolle
des hydrogeologischen Sachverstands bei der Entwicklung des
konzeptionellen Modells. Trotz des wesentlich geringeren Umfangs und
der stärkeren inhaltlichen Fokussierung zielt dieser Leitfaden –
ähnlich wie AGM – auf die anschauliche Vermittlung hydrogeologischer
Intuition und Erfahrung anhand von gut dokumentierten Fallbeispielen
ab. Die übergeordneten Themen – Abgrenzung des Bilanz- und
Modellraums, Strukturierung des Modellraums, Grundwasserhydraulik und
Randbedingungen, Grundwasserbeschaffenheit, Grundwasserbilanz – sind
jenen im Teilkapitel zum konzeptionellen Modell in AGM sehr ähnlich,
die Beispiele scheinen aber noch konkreter und ausführlicher
ausgearbeitet. Vordergründig erscheint der Leitfaden „Hydrogeologische
Modelle“ daher als vertiefende Darstellung des Arbeitsschritts der
konzeptionellen Modellbildung einer Grundwassermodellierung. Ein Blick
auf das Ablaufschema des inzwischen vergriffenen ersten Bandes aus dem
Jahr 1999, das erfreulicherweise im Anhang des dritten Bandes
abgedruckt ist, verdeutlich jedoch eine dem Leitfaden zugrunde
liegende andere Auffassung: Das Hydrogeologische Modell steht im
Zentrum des Interesses, mathematische Modelle sind neben Feldmessungen
nur Methoden zur Überprüfung der hydrogeologischen Modellvorstellung.
So gesehen repräsentieren beide Publikationen komplementäre Zugänge
zur quantitativen Beschreibung von Grundwassersystemen: Der Leitfaden
„Hydrogeologische Modelle“ stellt das konzeptionelle Verständnis in
den Vordergrund, „Applied Groundwater Modeling“ die Schritte hin zu
dessen numerischer Abbildung. Beiden Zugängen ist gemeinsam, dass die
Definition der Fragestellung als erster Arbeitsschritt wesentlich
bestimmt, in welcher Weise die realen Bedingungen im Modell abgebildet
und vereinfacht werden.
Welches Buch ist also empfohlen? Grundsätzlich: Beide! Das weit über
500 Seiten starke Lehrbuch „Applied Groundwater Modeling“ bietet
insgesamt naturgemäß eine umfassendere Darstellung der Thematik der
Modellierung von Grundwasser(strömungs)systemen, die nachdrücklich
allen empfohlen werden kann, die sich mit der Anwendung numerischer
Grundwassermodelle befassen. Die Neuauflage geht insbesondere in
Bezug auf Modellkalibrierung und Prognoseunsicherheiten weit über die
Erstauflage hinaus und bietet eine leicht zugängliche Einführung in
den aktuellen Stand der Forschung in diesem Themenbereich. Der
wesentlich schmalere Leitfaden „Hydrogeologische Modelle“ mag als
vertiefende Darstellung der konzeptionellen Modellbildung dienen. Die
hierbei vermittelten Kenntnisse scheinen mir jedoch nicht ausreichend,
wenn das konzeptionelle Modell als Grundlage für eine numerische
Modellierung dienen soll. In welcher Weise das reale System
vereinfacht werden kann oder muss, ist dann eben nicht allein eine
Frage des hydrogeologischen Sachverstands, sondern auch der
technisch-methodischen Umsetzung im numerischen Modell.
Tatsächlich liefern die Fallbeispiele im Leitfaden „Hydrogeologische
Modelle“ aber wertvolles 2016 Anschauungsmaterial für typische
hydrogeologische Problemstellungen, das der Vertiefung
hydrogeologischer Grundkenntnisse dient und somit einen viel breiteren
Kreis als nur die an Modellierung interessierten Hydrogeologinnen und
Hydrogeologen anspricht. So wird beispielsweise aufgezeigt, wie
vertikale hydraulische Gradienten zu Fehlinterpretationen der
Grundwasserstände führen können, wenn nicht die Tiefenlage der
Messstellen berücksichtigt wird. In diesem Sinne kann der Leitfaden
„Hydrogeologische Modelle“ allen empfohlen werden, die sich ein
vertieftes Verständnis hydrogeologischer Systeme aneignen möchten,
unabhängig davon, ob dies als Grundlage für weitergehende
quantitative, mathematische Beschreibungen der Systeme dienen soll
oder nicht. Wer allerdings die Anwendung numerischer
Grundwassermodelle beabsichtigt, kommt an „Applied Groundwater
Modeling“ nicht vorbei.
Steffen Birk, Institut für Erdwissenschaften, NAWI Graz Geozentrum
Beiträge zur Hydrogeologie Band 62, 2018 (Österreichische Vereinigung für Hydrogeologie)