Original paper
Biomechanik der Schmelzmikrostruktur in den Backenzähnen von Grossäugern
[Biomechanics of the enamel microstructure of large mammals]
Pfretzschner, Hans Ulrich

Palaeontographica Abteilung A Band 234 Lieferung 1-3 (1994), p. 1 - 88
88 references
published: Dec 20, 1994
Kurzfassung
Zahnschmelz ist ein biologisches Hartmaterial, das im Mikrobereich die weitaus größte strukturelle Mannigfaltigkeit in der Zoologie aufweist. Die Anordnung der Schmelzprismen zu Schmelztypen und wiederum der Schmelztypen zu Schmelzmustern eröffnet eine Vielfalt von Strukturen und damit auch strukturellen Anpassungen. Dies wird dadurch ermöglicht, daß jedes Schmelzprisma von einer einzigen Ameloblastenzelle gebildet wird und der zeitliche Ablauf der Differenzierung und Bewegung dieser Ameloblastenzelle die Form und den Verlauf des Prismas bestimmt. In der vorliegenden Arbeit wurde der Versuch unternommen, eine Anzahl dieser Strukturen funktionell zu interpretieren. Dazu wurde zunächst eine Werkstoffhypothese des Zahnschmelzes entworfen. Diese Werkstoffhypothese basiert auf drei Grundannahmen, die durch qualitative Beobachtungen über den Aufbau des Schmelzes und über die Ausbreitungen von Rissen im Schmelz überprüft werden können. Aus dieser Werkstoffhypothese können qualitative Aussagen über das Versagensverhalten des Zahnschmelzes gewonnen werden. Mit Hilfe statischer Berechnungen können weiterhin die Spannungssysteme in Zähnen charakterisiert werden, wie sie beim Kauvorgang auftreten. Dabei können die Spannungssysteme einfacher geschlossener Zahnkuppen, wie im Falle der Eckzähne oder der Einzelhöcker niederkroniger Backenzähne, durch analytische Lösungen der Differentialgleichungen der Schalenstatik berechnet werden. Im Falle der hochkronigen Pflanzenfressermolaren müssen jedoch die Spannungen mit Hilfe der Methode der Finiten Elemente numerisch berechnet werden. Die so gewonnenen Aussagen über die Spannungsverteilungen können nun zusammen mit der Werkstoffhypothese zur Interpretation der in den verschiedenen Zahnformen gefundenen Mikrostrukturen herangezogen werden. Für geschlossene Zahnkronen erweisen sich die horizontalen HSB als eine verfestigende Struktur. Die horizontale Anordnung überkreuzter Faserlagen erhöht einerseits die Festigkeit des Schmelzes gegenüber horizontalen Zugkräften, wie sie beim Kauakt auch tatsächlich auftreten. Weiterhin kann gezeigt werden, daß die HSB gleichzeitig bereits bestehende Risse in ihrer weiteren Ausbreitung hemmen. Die biologische Relevanz dieser Mechanismen und die qualitative Richtigkeit der benutzten Modelle kann an Rissen, wie sie in vivo an Eckzähnen von Carnivora beobachtet werden können, demonstriert werden. Im Falle der hochkronigen Backenzähne der Pflanzenfressermolaren zeigen die numerischen Modelle, daß die Spannungssysteme einen qualitativ völlig abweichenden Charakter besitzen. Dadurch, daß die Zahnkrone apikal geöffnet ist, treten im apikalen Bereich radiale Zugspannungen auf, die auch gegen die Horizontale etwas abwärts geneigt sein können. Diese Spannungssysteme erreichen ihre Spitzenwerte im dentinnahen Bereich. Damit ist eine vertikale Überkreuzung der Fasern im dentinnahen Bereich als Verfestigungsstruktur zu fordern. Tatsächlich treten drei verschiedene Strukturen in den unterschiedlichen hypsodonten Säugergruppen auf: der 3-D-Schmelz der Proboscidea, die vertikalen HSB der Rhinocerotidea und Astrapotheria und der weit verbreitete modifizierte Radialschmelz. Das mehrfache Auftreten der gleichen Schmelztypen in unterschiedlichen Schmelzmustern, in systematisch entfernt stehenden Säugetierfamilien sowie in geographisch getrennt entstandenen Säugetierfamilien weisen auf zahlreiche konvergente Entwicklungen dieser Schmelztypen hin. Im Falle der Proboscidea und im Falle der Equidae kann das Erscheinen der speziellen Schmelztypen im Laufe der phylogenetischen Entwicklung der beiden Gruppen im Zusammenhang mit der Entwicklung der Hypsodontie einzelner Zahnelemente im ersten bzw. der ganzen Zähne im zweiten Falle demonstriert werden. Auf diese Weise können die Schmelzmikrostrukturen als strukturelle Adaptation an die beim Kauakt auftretenden Spannungen im Zahnschmelz interpretiert werden. Weiterhin können in komplizierten Schmelzmustern einzelne Schmelztypen als stark funktionell bedingt, andere als mehr phylogenetisch geprägt charakterisiert werden. Dies ist insbesondere für die Identifikation und die phylogenetische Interpretation der Säugetiergruppen von Bedeutung.
Abstract
Mammalian enamel is a biological hard tissue with a very wide range of microstructural characters. This is due to the arrangement of the prisms to enamel types and the combination of different enamel types to Schmelzmuster. During ontogeny each ameloblast forms one prism and the movement of the cell determines the orientation of the prism. In this study some prism patterns are interpreted functionally. Therefore the mechanical properties of enamel are interpreted from observations of crack propagation in combination with the microstructural features. From these properties the stress pattern which leads to failure easiest can be derived. Calculations based on shell statics yield the stress distributions on the tooth crown during mastication under different loading conditions. For simple shaped teeth as canines or lowcrowned molars, the mathematical equations can be solved by hand and the stress pattern can be calculated. For hypsodont teeth finite element models must be calculated with the computer. The calculated stress patterns together with the characters of the material can be used for the functional interpretation of the microstructure. For lowcrowned teeth the biomechanical analyses shows that the horizontal Hunter-Schreger-bands (HSB) strengthen the enamel. The horizontal layers of decussated prisms reinforces the enamel against horizontal tension stresses that occur during mastication. In addition the horizontal HSB inhibit vertical microcracks in their propagation through the enamel. The biological validity of these stresses is indicated by the frequent occurrence of vertical cracks in vivo at the base of carnivore canines. In the case of the hypsodont molars the finite element models showed that the stress distribution is completely different. The apical opening of the enamel cover of the tooth causes radial tension stresses in the enamel near the occlusal surface. These stresses are somewhat downward inclined and reach a maximum at the enamel-dentine junction. This means that a vertical decussation of prisms would strengthen the enamel in this area. Indeed, three different enamel types appear in hypsodont mammals which show vertical decussation. Proboscidea have the 3-D-enamel, in Rhinocerotidea and Astrapotheria vertical HSB can be observed and in several other groups the modified radial enamel has evolved. The evolution of the same enamel type in different Schmelzmuster, in different phylogenetic lines, and in geographically isolated groups demonstrates that the appearance of the modified radial enamel is convergent. In the Proboscidea and the Equidae the link between the evolution of hypsodonty and appearance of the new enamel types can be clearly demonstrated. All these arguments lead to the interpretation of the new enamel types as structural adaptations towards the new mechanical situation in hypsodont teeth. In addition, the structure of the whole Schmelzmuster demonstrates that some enamel types may be functionally adaptive while others are phylogenetically determined. This is very important for the taxonomic use of enamel types and Schmelzmuster.
Keywords
Säugetiere • Zahnschmelz • Backenzähne • Mikrostruktur • Biomechanik • Mammals • Enamel • molars • microstructure • biomechanics