Das vorliegende Buch erschien als Band 9 der Reihe ``Urbanisierung der Erde'',
der eine Konzeption von Dr. Wolf Tietze - dem Herausgeber der Reihe - zu Grunde
liegt. Die Idee, den globalen Urbanisierungsprozess in seiner geographischen
Differenzierung darzustellen, ist überaus anregend und wichtig.
Das Buch "Urbanisierung Rußlands" beeindruckt zunächst durch seine
polygraphische Qualität. Die inhaltliche Qualität wird wesentlich von der
erfolgreichen Zusammenarbeit der Autoren Prof. Fritz W. Hönsch (Leipzig) und
Prof. Georgi G. M. Lappo (Moskau) bestimmt. Wie in der Einleitung erwähnt,
diente ein Manuskript von G. M. Lappo, der als Autor zahlreicher
Veröffentlichungen zur Stadtgeographie und Urbanisierung in Russland zu den
bekanntesten russischen Siedlungsgeographen zählt, als Grundlage des
Gemeinschaftswerks. Das Manuskript wurde von F. W. Hönsch unter
Berücksichtigung aktueller russischer, westeuropäischer und deutscher Arbeiten
auf dem Gebiet der Urbanisierung Russlands überarbeitet und ergänzt. Diese
Ergänzungen betreffen nicht zuletzt die Kommentierung der Abbildungen, die -
auf das jeweils Dargestellte konzentriert - den Haupttext wirkungsvoll
bereichert. Die Fußnoten enthalten notwendige, in erster Linie für den
deutschen Leserkreis bestimmte Erläuterungen.
Das Buch umfasst neun Kapitel, ein Literaturverzeichnis mit ca. 230 Titeln
sowie ein Sach- und ein geographisches Register. Damit werden die
Hauptprobleme, die charakteristischen Besonderheiten der Urbanisierung in
Russland und die Städte selbst durchaus überzeugend und faktenreich
dargestellt.
Im ersten Kapitel beschreiben die Autoren die Bedingungen des
Urbanisierungsprozesses in Russland. Dabei heben sie die Rolle der Landesgröße
hervor, die objektiv eine Vielzahl großer Städte als Stützpunkte der
verschiedensten, das Land überspannenden Netze bedingte. Trotzdem behielten
große Teilräume ihren ländlichen Charakter: Städte stellen außerhalb der
Agglomerationen isolierte Erscheinungen dar und bilden ein nur weitmaschiges
Netz. Bezeichnend ist die urbane Asymmetrie zwischen dem Westen und dem Osten
Russlands, obwohl die Industrialisierung in allen Landesteilen bedeutender
Impulsgeber der Urbanisierung war. Sie führte zur Entstehung zahlreicher neuer
Städte und zum raschen Wachstum alter Städte. Die Betrachtung der
abgeschwächten Urbanisierung in den 1980er Jahren hätten die Autoren allerdings
angesichts der gesellschaftliche Neuorientierung des Landes mit der Bewertung
der neuen Komponenten und Tendenz des Urbanisierungsprozesses in der
postsowjetischen Zeit verbinden können.
Kapitel 2 gibt eine historisch-geographische Übersicht über die Entwicklung des
russischen Städtenetzes in ihren Hauptperioden; das historische Prinzip
durchzieht - das sei schon hier vermerkt - wie ein roter Faden das gesamte Werk
und gehört zu den starken Seiten des Buches. Die erste Entwicklungsetappe
lassen die Autoren von der Kiewer Rus bis zur Oktoberrevolution 1917 reichen.
Die notwendigen Unterabschnitte folgen zeitlichen und regionalen
Schwerpunktsetzungen. Viele alte Städte, darunter Nowgorod, Pskow, Susdal und
natürlich St. Petersburg und Moskau, sind wegen ihrer Rolle in der Geschichte,
aber auch wegen ihrer kulturhistorischen Bedeutung weit über die Landesgrenzen
bekannt. Sie erfuhren bis heute mehrfachen Bedeutungswandel.
Anschließend an die erste, belegt die zweite Etappe der Städtenetzentwicklung
den größten Teil des 20. Jahrhunderts - soziologisch und geographisch die Zeit
der Urbanisierung; historisch logisch fungiert die Zäsur des Zweiten Weltkriegs
als wesentliches Gliederungselement dieses Abschnitts. Dem Entwicklungsgang
folgend, charakterisieren ihn die Autoren nicht nur als quantitativen Prozess,
d.h. als Zunahme der Stadtanzahl und der Stadtbevölkerung, sondern sie betonen
zu Recht auch die qualitative Seite der russländischen Urbanisierung, die bei
manchen Fachvertretern leider außerhalb der Betrachtung bleibt. Dazu zählt
beispielsweise die Herausbildung neuer Stadttypen, etwa der Hauptstädte kleiner
nationaler Republiken (Tscheboksary, Naltschik u. a.) oder der
Wissenschaftsstädte (z. B. Dubna).
Besondere Beachtung verdient das dritte Kapitel. In der Praxis der Raumordnung
vieler Länder haben sich Knoten-Band-Strukturen mit ihren Entwicklungs- und
Differenzierungspotenzialen durchgesetzt auch in Russland spielen sie eine
herausragende Rolle. Die Autoren weisen nach, dass angesichts seiner riesigen
Dimensionen und seiner erheblichen Unterschiede in den physischen und
sozioökonomischen Bedingungen das entstandene Grundgerüst der Siedlungsstruktur
die strategische Richtung der Urbanisierung bestimmte und bestimmt. Bestehend
aus zwei Teilsystemen - einem Städtenetz (von Großstädten und Agglomerationen)
und einem magistralen Eisenbahnnetz - haben die Knoten-Band-Strukturen große
Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung der Russländischen Föderation.
Die Karte (Abb. 22) unterstützt diese Argumentation und fördert das Verständnis
für die Bedingungen der Raumentwicklung in Russland: die Lage und Ausprägung
des Hauptsiedlungsgürtels sowie die gewaltige Ausdehnung der nördlichen Zone.
Kapitel 4 ist der aktuellen demographischen Situation und ihren Wirkungen auf
die Siedlungen gewidmet. Es unterstreicht konzentriert die enge Verbindung der
neuartigen Dynamik in der Bevölkerungsentwicklung Russlands (der natürlichen
und der durch Wanderungen verursachten) mit Veränderungen der
Siedlungsstruktur. Mit anderen beeinflussenden Problemen befassen sich die
Autoren in Kapitel 5: mit der Ökologie der Städte. In besonderem Maße mit der
Industrie verbunden, sind aber nicht nur die Lebensbedingungen in den Städten
beeinträchtigt, darüber hinaus - das zeigen die Karten (Abb. 25 und 28) - sind
es oft große Teile ihres Umlandes. Erste angeführte Beispiele zur Umsetzung
eines stadtökologischen Konzepts sind daher von großem Interesse.
Das sechste Kapitel bietet mit seinen anregenden Inhaltspunkten die
Möglichkeit, auf charakteristische Merkmale russländischer Städte aufmerksam zu
machen: die Besonderheiten der Lage, der Genese und Funktionalität sowie ihre
Stellung im Siedlungssystem. Allerdings entspricht die Bezeichnung des Kapitels
nicht in vollem Maße dem Inhalt: Vordergründig behandelt werden die vier
Städtekategorien alte Städte, neue Städte, Groß- und Kleinstädte. Die alten
Städte, die Stadtzentren können als Fixpunkte der Siedlungsstruktur wichtige
Entwicklungsetappen sichtbar machen, doch sind viele durch widrige
(kriegerische und administrative) Ereignisse amputiert: Sie bedürfen der
Renovierung und Revitalisierung - die im Buch genannten Beispiele sind bisher
Einzelfälle. Neue Städte - Neugründungen und Stadterhebungen - sind bis in die
jüngste Zeit ein Charakteristikum der russischen Urbanisierung; überhaupt
(betonen die Autoren mit Recht) ist Russland immer ein Land neuer Städte
gewesen. Die oft zu beobachtende Unvollkommenheit des urbanen Milieus ist ein
beredtes Zeichen dafür, dass viele Städte noch jung sind, dass - wie die
Autoren feststellen - der Wandel von der industriellen und dörflichen
Abstammung zur städtischen Reife auch in der Gegenwart anhält.
Großstädte und Agglomerationen sind wesentliche Ergebnisse der Urbanisierung.
Deshalb gibt es unter ihnen viele neue Städte (etwa ein Viertel der rund 160),
die Mehrzahl jedoch sind alte, die eine außergewöhnliche wirtschaftliche
Entwicklung und Konzentrationsprozesse erfuhren. Sie alle sind in erster Linie
Industrie- und Verwaltungszentren, besitzen aber auch andere hochrangige
Funktionen; Beispiele neuer Großstädte sind Magnitogorsk, Nowokusnezk oder
Bratsk, zu den gewachsenen zählen u. a. Nishni Nowgorod, Samara und Tambow.
Kleinstädte gibt es logischerweise sehr viele - in vielfältiger Ausprägung und
in verschiedenster räumlicher Lage; sie existieren einzeln und in
Agglomerationen. Die Autoren mahnen berechtigt an, dass diese
Verschiedenartigkeit in der Siedlungs-, Regional-, Bevölkerungs- und
Umweltpolitik berücksichtigt werden muss. Gerade die kleinen Städte haben im
Rahmen der Stabilisierung der noch jungen Marktwirtschaft in den ländlichen
Regionen eine große Bedeutung.
Kapitel 7 ist den regionalen Städtenetzen gewidmet; in vier Unterkapiteln
befassen sich die Autoren mit den Städten des europäischen Nordens und der
Moskauer Region, mit den Wolgastädten und den Städten Sibiriens. Diese
Hinwendung zur regionalen Betrachtungsweise kann nur positiv beurteilt werden,
denn damit gelingt es, den Einfluss der überaus unterschiedlichen regionalen
Bedingungen auf die Urbanisierung in Russland zu belegen. Sie ist sehr
informativ. Und so ist zu bedauern, dass nicht alle russländischen
Makroregionen in diese Darstellung einbezogen worden sind; besonders der Süden
Russlands - eine in mehrfacher Hinsicht eigenständige Region - hätte hier
zusätzlich aufgenommen werden müssen.
Die vergleichende Charakterisierung von zwei Städtepaaren ist Gegenstand des
achten Kapitels: Moskau und Sankt Petersburg sowie Archangelsk und Murmansk.
Die Autoren folgen dabei nicht nur den Spuren von Geographen, sondern gerade
auch von Schriftstellern. Zu ihnen gehört der Literaturkritiker Belinski, der
(wahrscheinlich als Erster) die beiden Hauptstädte nicht einander
gegenüberstellte, sondern ihr wechselseitiges Ergänzen hervorhob. So auch Lappo
und Hönsch, die mit ihrem Vergleich Unterschiede und Ähnlichkeiten von Moskau
und St. Petersburg herausarbeiten. Auf einer anderen hierarchischen Ebene
liegend, doch ähnlich interessant ist der Vergleich von Archangelsk und
Murmansk.
Das Kapitel 9 bildet den logischen Abschluss des Buches. Es kann als Versuch
der Autoren betrachtet werden, geographische Kenntnisse, Prinzipien und
Denkweisen der Praxis, Städtebauern wie auch Entscheidungsträgern in Politik
und Wirtschaft nahe zu bringen. Begrüßenswert ist, dass die Autoren die
Notwendigkeit unterstreichen, dass sowohl in Gesetzen als auch in Planungen die
in Russland anzutreffende geographische Differenziertheit und typologische
Individualität der Städte grundsätzlich berücksichtigt werden sollten. Damit
weisen sie der Geographie insgesamt eine aktive, gestaltende Rolle zu. Die
Urbanisierung stellen sie - auf Grund ihres Wirkens im Russland des 20.
Jahrhunderts - als effektives Mittel der Weiterentwicklung des Landes dar.
Das vorliegende Buch zweier Wissenschaftler aus Russland und Deutschland, mit
der freundlichen Unterstützung von Dr. Tietze entstanden, ist eine Bereicherung
des geographischen Buchmarktes. Die Darlegungen sind ausgewogen analysierend
(wenn auch nicht immer umfassend) und gleichzeitig konstruktiv. Sie scheuen
nicht die Kritik an Schwächen der russischen Urbanisierung, distanzieren sich
aber von pauschalen Negativurteilen. Zu den Vorzügen des Werkes zählen die gute
Ausstattung mit Abbildungen - mit Karten, Schemata, Satellitenbildern, alten
Stich- und neuen Fotowiedergaben (letztere fast ausnahmslos von F. W. Hönsch) -
wie auch die historische und literarische Einbindung des Themas; bedauerlich
ist nur, dass der Vergleich der Hauptstädte ohne Fotos von St. Petersburg
auskommen muss. Dem Buch sind viele interessierte Leser zu wünschen.
J. N. Perzik, Moskau
Übersetzung der stark gekürzten Fassung: Dmitri Piterski, Leipzig
Europa Regional, H. 2, 2001, S. 107/108