Moose und Moosgesellschaften gehören in perhumiden Regenwäldern
aufgrund ihrer Massenentfaltung zu den physiognomisch herausragenden
Gestalttypen, die durch großen floristischen Reichtum, zahlreiche
Endemismen, interessante Vikarlanzen sowie speziellen Anpassungs- und
Einnischungsstrategien von erheblicher Bedeutung für das Ökosystem
sind. Die vorgelegte Arbeit von Friederike Schaumann - die für uns
alle völlig unerwartet, das Erscheinen des vorliegenden Bandes nicht
mehr erleben durfte - befaßt sich dabei erstmals mit den
terrestrischen Moosgesellschaften der temperierten Regenwälder
Südchiles und Patagoniens und hat Pioniercharakter. Erfaßt wurden
Gesellschaften, Gesellschaftstruktur, -Verbreitung und -Ökologie,
Anpassungssyndrome, Reproduktionsstrategien und Arealbeziehungen der
Arten der Gesellschaften in diesem Teil der Südhemisphäre.
Die Arbeit umfaßt vier Teile:
1. Symmorphologie, Synökologie und Syntaxonomie der terrestrischen
Moosgesellschaften entlang ausgewählter Transekte mit Hilfe von 381
pflanzensoziologischen Aufnahmen. Vom Tiefland bis in die subalpine
Stufe der magellanischen, valdivischen und araukarischen Waldregion
(Nothofagus- und Araucariaceen-Wälder) werden 12 Moosgesellschaften
beschrieben, die sich entsprechend dem Höhengradienten undder
geographischen Breite in zwei Hauptgruppen zusammenfassen lassen
(Tieflandgruppe: Plagiochila duricanlis-Arbusculo-hypopterygium
arbuscala Gesellschaft, Breutelia dumosa-B. subplicata Gesellschaft,
Symphyogyna podophylla- S. rabritincta Gesellschaft, Rigodium implexum
Gesellschaft, Dendroligotrichum dendroides-Porothamaium spp.
Gesellschaft, Dicranoluma billarderi-Riccardia prehensilis
Gesellschaft; Hochlagengruppe: Leptoscyphus expansus-Lophocolea
Ieptantha Gesellschaft, Syntrichia andersonii-S. robusta Gesellschaft,
Platyneurum proealtum-Sanonia uncinnata Gesellschaft, Bartramia
halleriana-Polytrichadelphusmagellanicus Gesellschaft, Ditrichum
hyolinum-Clasmatocolea rigens Gesellschaft,Dicranoloma
robustum-Rigodium toxurion Gesellschaft). Damit wird erstmals ein
Gliederungschema für Südchile und Patagonien vorgelegt, das eine
fundierte Grundlage für diese Vegetationskomplexe darstellt und auf
dem zukünftige Arbeiten aufbauen können.
2. Erfassung und Dokumentation der adaptiven Merkmalskomplexe unter
besonderer Berücksichtigung ausbreitungsbiologischer und klonaler
Reproduktionsstrategien (u. a. Lebensdauer, Lebensform,
Geschlechterverteilung, Setenlänge, Sporendurchmesser,
Ausbreitungspotenzial, Ausbreitungsdistanzen). Neben dem Nachweis
bisherbei vielen Arten nicht bekannter, asexueller
Reproduktionsmechanismen konnte gezeigt werden, dass der klonalen
Reproduktion eine besonders hohe funktionelle Bedeutung bei der
Etablierung und Habitatbesetzung in den untersuchten Reliktwäldern
zukommt. Fünf Grundtypen werden unterschieden, beschieben und durch
Fotos dokumentiert (Fragmentation, Bildung von Primordien,
Regeneration aus dem Rhizoidensystem, Regeneration aus Stolonen oder
rhizomartigen Achsen, Regeneration und Verselbstständigung jüngerer
Thallus-/Sprossteile durch Verwitterung der ältereren
Thallus-/Stämmchenteile).
3. Arealkundliche und florengeschichtliche Interpretation unter
Berücksichtigungpaläogeographischer Ereignisse. So sind die
Gesellschaften der Tieflagenwälder durch eine Anzahl von
Paläoendemiten charakterisiert, die ein stammesgeschichtlich hohes
Alter aufweisen und einem paläoaustralen Genoelement zugerechnet weden
können, das interessanterweise fast ausschließlich durch klonale
Reproduktions-mechanismen gekennzeichnet ist.
4. Vergleich der terrestrischen Moosvegetation Südchiles mit der
Neuseelands (ehemaliger Gondwana-Kontinent). Dieser Vergleich zeigt
eindrucksvoll, dass aufgrund einer ähnlichen Floren- und
Klimageschichte nahezu identische Adaptations- und
Einnischungsprozesse auf dem ehemaligen Gondwana-Kontinent
stattgefunden haben, die bereits vor der Aufspaltung der
paläoaustralen Region vorhanden waren.
Der vorliegende Band in der Reihe 'Bryophytorum Bibliotheca' stellt
aufgrund dieser sorgfältigen und umfassenden Analyse, der
synthetischen Betrachtung und kausalanalytischen Interpretation einen
wesentlchen Beitrag zur bryologischen Grundlagenforschung dar, durch
den die adaptiven und evolutiven, oftmals konvergent (parallele
Evolution) entstandenen Merkmalskomplexe eindrucksvoll aufgezeigt
werden. Er bildet damit eine kaum zu vernachlässigende Grundlage für
alle weiteren Arbeiten, die sich mit Bryophyten der Südhemisphäre
beschäftigen werden. Friederike Schaumann hat sich damit in der
,scientific community' etabliert und ihr Name wird für immer mit der
Moosflora und -vegetation Chiles und Patagoniens und mit der
südhemisphärischen Bryologie verbunden bleiben.
HARALD KURSCHNER, Berlin
Nova Hedwigia 82 1-2, 2006, S. 266-268